„Die Ukraine kämpft für den Erhalt aller europäischen Demokratien“

Den „Lügen Russlands“ habe er noch nie geglaubt. Auch Mitte Februar 2022 nicht. Während die ukrainische Staatsmacht immer noch davon ausging, dass ein Angriffskrieg durch Putins Truppen nicht erfolgen würde, bereitete sich der ukrainische Geschichtsprofessor Ihor Zhaloba längst auf den Einmarsch der Soldaten vor: körperlich wie auch mental. Als schließlich am 24. Februar die ersten Garnisonen über die Grenzen kamen, meldete sich Zhaloba als einer der ersten Zivilisten freiwillig für die Front. Inzwischen nimmt er eine andere, ebenso wichtige Rolle ein: Fernab von egal von welcher Seite gesteuerten Nachrichten informiert er im Westen über das wahre Geschehen vor Ort – und warum die Ukraine für die ganze freie Welt kämpfe und längst nicht nur für das eigene Land.

VON RALPH F. WILD

Ihor Zhaloba spricht mit starker Stimme. Sein Händedruck ist gewaltig. Wenn er aber aus seiner Heimat erzählt, übermannen ihn manchmal die Emotionen. Trauer mischt sich mit Wut, der Verlust vieler Kameraden, Freunde und Verwandte eint ihn mit den meisten Familien in der Ukraine. Martin Scheuermann, Direktor und geistlicher Leiter des Schwäbisch Gmünder Schönblicks, lernte Zhaloba bei seiner Reise mit dem CDU-Fraktionsvorsitzenden in Baden-Württemberg, Manuel Hagel, in Kiew kennen: „Ich war beeindruckt von seiner Stärke, seinem Wissen und seinem Einsatz für den Erhalt der Ukraine als unabhängigen Staat“, so der Schönblick-Direktor. Als sich spontan die Chance ergab, den Geschichtsprofessor für einen Vortrag über das Kriegsgeschehen in das christliche Gästewerk zu holen, reagierte Martin Scheuermann sofort. Die Resonanz auf die kurzfristig erfolgte Einladung zu diesem Exklusivbericht war erfreulich: Innerhalb von 72 Stunden sagten Unternehmer, Geschäftsführer, Ortsvorsteherin und auch der Gmünder Landtagsabgeordnete Tim Bückner (CDU) zu, bei dem Vortrag dabei zu sein. 
Was Zhaloba berichtet, ist einerseits beeindruckend, andererseits ebenso beängstigend. Auf alle Fälle ist es besorgniserregend, wenn er sagt: „Viele im Westen haben noch nicht verstanden, was dort in der Ukraine vor sich geht. Fällt unser Land, steht Putin auch vor Ihrer Haustür hier.“ Es sei ein Kampf allgemein um die Demokratien der westlichen Welt, ein Schutz vor Unterdrückung, wie sie „die Menschen in Mitteleuropa gar nicht kennen.“ Längst sei man sich in seiner Heimat bewusst, dass man aus dem Westen nicht die Unterstützung bekommen werde, die sich die Soldaten zu Beginn erhofft hatten: „Nein, Amerikaner, Franzosen, Briten oder Deutsche werden hier nicht kämpfen.“ Zumeist spricht er nicht vom Kampf, sondern von seiner momentanen „Arbeit“. Der „Arbeit an der Front“. Und er zeigt sich dankbar, dass die westlichen Staaten mit Waffen, Munition und auch schwerstem Gerät wie Panzern sein Land ausrüsten. „Allerdings dauert vieles einfach zu lange“, sagt er, und fügt Kritik an der Führung der Ukraine gleich mit an: „Während viele, viele Zivilisten sich schon 2021 auf den Krieg vorbereiteten, tat unsere ,Macht‘ viel zu wenig. Dabei, das sieht man heute, sind es die Buchhalter, die Dachdecker, die Bäcker, die hauptsächlich den Widerstand gegen Russland halten.“ Sowohl bei der Abwehr der russischen Armee in der Hauptstadt Kiew als auch in Bachmut war Ihor Zhaloba an vorderster Linie dabei. Zunächst als Infanterist, später dann mit einer Drohnen-Abteilung. Drohnen sind für den Geschichtsprofessor das Instrument, das heute den ganzen Krieg lenkt und leitet. „Die Zivilisten waren es, die vom eigenen Geld Drohnen kauften oder sie selbst bauten. Sowohl zunächst zur Aufklärung als auch jetzt als Kriegswaffe.“ Er könne dem Westen nur raten, die Erfahrungen der Ukraine zu nutzen, um selbst endlich tätig zu werden in Sachen Nachrüstung mit den unbemannten Flugobjekten: „Sie hätten das bereits vorgestern tun müssen. Wenn Ihre Länder noch lange warten, dann ist es zu spät.“
Natürlich stand auch der momentane Kriegsverlauf mit im Zentrum der Erklärungen des Geschichtsprofessors. „Es ist nicht zu leugnen, dass die Russen derzeit an vielen Stellen in der besseren Position sind. Unsere Soldaten, wie gesagt dabei auch ganz viele Zivilisten, die vor drei Jahren noch nie ein Gewehr in der Hand hielten, sind müde. Sehr müde. Und dennoch weiß jeder: Wir müssen diese Arbeit machen. Die Ukraine muss ein unabhängiger Staat bleiben.“ Doch andererseits wisse auch jeder in seinem Land, dass Russland den Sieg mit aller Macht brauche: „Russland will den Krieg gewinnen – egal zu welchem Preis.“
Was die Ukraine jetzt aus den USA erwarte, nach Donald Trumps Aussagen, den Angriffskrieg in „nur 24 Stunden“ beenden zu wollen, kommentiert Zhaloba mit einem Schulterzucken. Das Wort „Blackbox“ treffe auf den amerikanischen Präsidenten aus ukrainischer Sicht sicherlich zu: „Wir wissen nicht, was er tun will. Nur Worte reichen nicht aus.“
Am 24. Februar 2025 jährt sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal bereits. Wann er zu Ende geht, will Geschichtsprofessor Ihor Zhaloba nicht beurteilen: „Nur eines ist sicher: Die Ukraine muss alle ihre Gebiete zurückbekommen, die uns mit der Abgabe unserer Atomwaffen 1994 zugesichert wurden. Vielleicht nicht heute und sofort, aber auf historische Sicht auf alle Fälle.“
Zhaloba wird auch in den nächsten Wochen und Monate weiter für die Unterstützung seiner Heimat werben – mit zudem noch einer Botschaft im Gepäck für diejenigen gesunden Männer, die mit dem Kriegsbeginn aus der Ukraine geflüchtet seien: „Wir wollen sie hier nie wieder sehen.“ Und was nach einer möglichen Beendigung der Kampfhandlungen an vorderster Stelle des Staates und des Militärs geschehe? „Das ist heute nicht der richtige Tag, um darüber zu sprechen. Aber auch dort wird sich in einer freien Ukraine sicherlich etwas bewegen müssen.“